Versunkene Literatur taucht wieder auf 

Im Sommer des Jahres 2002 wurden der Vitalis-Verlag und die dazugehörige Verlagsbuchhandlung durch das Hochwasser einer Jahrtausendflut verheert. Für Wochen war der Verlag ohne Strom und Telefonverbindung von der Außenwelt abgeschnitten, der Verlagsbetrieb unterbrochen. Erst mit dem Abfließen des Wassers zeichnete sich das in die Millionen gehende Ausmaß der Schäden ab. Nun hatte das seit zehn Jahren bestehende Unternehmen seine härteste Bewährungsprobe zu bestehen. Trotz aller Zerstörungen wurde noch im Herbst des Jahres 2002 von Neuem der provisorische Verlagsbetrieb aufgenommen: „Und die Flut und den Fels und Feuersgewalt auch bezwinget mit Kunst der Mensch“ – unter diesem Motto Hölderlins stand der erste Katalog nach der Flut und in dieser Überzeugung nahm der Wiederaufbau seinen Anfang. Noch unter dem Eindruck der Katastrophe verfaßte Verleger Harald Salfellner einen Bericht von den Augusttagen, als das große Wasser kam.

Böhmen liegt im Meer

Seit Tagen regnet es in Böhmen, die Pegel steigen, Prag rüstet sich gegen die drohende Flut. Als am Montag, dem 12. August, die Wassermassen die tschechische Hauptstadt erreichen, stehen Krummau und andere Städte am Oberlauf der Moldau bereits unter Wasser, die Staudämme halten kaum noch stand. 

In den Nachmittagsstunden wälzt sich der zum Strom geschwollene Fluß breit und bedrohlich unter der Mánesbrücke hindurch. Äste und Hausrat ziehen an uns vorbei, tauchen zwischen den Schaumkronen auf und verschwinden wieder in der Tiefe. Noch einige Meter fehlen bis zum Überlaufen, aber der Regen prasselt unaufhörlich auf die wallende Oberfläche. Es ist feuchtkalt wie im November, dennoch sind die Gassen und Plätze voller Leute. Von der Brücke aus starren sie ins Wasser, sie ziehen am Klárovpark vorbei in Richtung Karlsbrücke. Wir laufen mit ihnen, für uns ist es ein Wettlauf mit der Zeit. Hinter dem alten Zeughaus schwappt schon das Wasser bis zur Gasse herauf. Da ist nichts, das die braune Gischt am Übertreten hindern könnte. Die Rundfunkstationen melden, im Süden hätten die Ingenieure einige Schleusen öffnen müssen, um ein Bersten der Staudämme abzuwenden – nun müsse man sich auf die Folgen einrichten: Eine ungeheure Flutwelle, gewaltiger als das große Hochwasser von anno 1890, rollt auf die tschechische Hauptstadt zu. Gerüchte gehen um, kommen aus dem Nirgendwo, verlieren sich im Nichts. Jeder vermutet etwas, Genaues weiß niemand. Zwei Meter wird der Spiegel steigen, nein drei! Auf der Insel Kampa werden die Giebel unter Wasser stehen. Ach was! Nichts wird geschehen, man habe Barrieren errichtet, die Stadt sei auf alles vorbereitet. 

Endlich wird Sand herangekarrt, schwere Tatras laden ihre Fracht auf das Straßenpflaster, weiße Kunststoffsäcke liegen stapelweise bereit. Sirenen heulen, ganz Prag scheint voller Krankenwagen, die sich mit ohrenbetäubendem Gekreisch ihren Weg durch die verstopfte Stadt bahnen. Tausende müssen ihre Wohnungen verlassen, die Evakuierung ist in vollem Gang. Alle parkenden Fahrzeuge sind schon vor Stunden aus den betroffenen Bezirken abgeschleppt worden. Jetzt rückt das Militär heran, junge Burschen aus Prager Kasernen. Polizeikräfte patrouillieren im Gefahrengebiet, versuchen das Chaos zu ordnen. Noch ist überall Hoffnung, die Stimmung nicht schlecht, doch in den Gassen herrscht ein hektisches Durcheinander. Die Sorge steht den Menschen ins Gesicht geschrieben. Bewohner der direkt an die Moldau grenzenden Viertel, aber auch Verkäufer, Kellner und andere Bedienstete errichten zusammen mit den Soldaten Dämme aus Sandsäcken. Frauen füllen Beutel ab, Männer schultern sie und schleppen die schwere Fracht zu den umliegenden Hauseingängen, Fenstern und Lüftungsschächten. Keiner hat Erfahrung, niemand kennt sich aus, nirgends gibt es eine erkennbare Einsatzleitung. Unter einem straffen Kommando könnten die vielen hilfsbereiten Kräfte vielleicht etwas bewirken, doch so verpufft die Energie ohne Ergebnis. Die Armeeangehörigen wissen auch nicht recht, was zu tun ist; ohne Vorgesetzten, ohne klaren Auftrag, ohne geeignetes Gerät hat man sie abgeladen; nun helfen sie mal hier, mal dort – willig, aber ohne Plan.

In den Geschäften werden die Waren auf höhere Etagen gestapelt, ein Abtransport ist nicht mehr möglich, die Zufahrt zum Überschwemmungssektor ist gesperrt. So vergeht die Nacht in hektischer Betriebsamkeit. Dann, in den Morgenstunden des 13. August, kehrt gespenstische Ruhe ein. Niemand darf mehr in die Gasse hinein. Alle Bewohner müssen das Viertel verlassen, denn die Behörden haben die Kleinseite zum Notstandsgebiet erklärt. Die Insel Kampa, einige hundert Meter weiter, steht schon tief unter Wasser. Aber unser Vorplatz ist noch trocken, und so schöpfen wir erneut Hoffnung, wiewohl der Pegel über Nacht weiter gestiegen ist. 

Die Dämme aus Sandsäcken sind schwach, schon nach wenigen Stunden ist der Inhalt durchnäßt. Quälend langsam verrinnen die Minuten, verstreichen die Stunden, und noch immer ist der Scheitelpunkt des Hochwassers nicht erreicht. In kurzen Abständen laufen wir hinunter zum Klárov, dazwischen sitzen wir vor dem Fernseher. ČT 1 sendet pausenlos erschreckende Bilder, aber Konkretes erfahren wir nicht, schon gar nicht, ob die Säcke vor unserem Geschäft halten werden. Wir hoffen, bangen, zweifeln. 

Vom Blindeninstitut aus sehen wir zu, wie das Befürchtete eintritt. Die Barriere gibt nach, ohne daß das Brechen in irgendeiner Weise spektakulär aussieht. Da gibt es keine hervorschnellenden Fluten, kein Sich-Wälzen, Strömen, Gischten, kein Hervorbrechen und Herausstürzen, kein Wallen, Wirbeln oder Wogen. Langsam sickert das trübe Wasser in die stille Gasse, läuft über auf Gehsteige und Vorgärten, fließt durch Ritzen in Kneipen, Läden und Wohnungen, bahnt sich seinen Weg durch geborstene Fenster, ergießt sich in Nischen, Winkel und Kammern. Bald schwappt das Wasser auch in die Metrostation, füllt unaufhaltsam den tiefen Schacht und mit ihm die angrenzenden Tunnelröhren. Nach wenigen Viertelstunden ist die ganze Senke um die Tramwayhaltestelle ein spiegelglatter See. Ganz friedlich und still liegt er vor uns, ein ungewohntes Bild, nicht ohne Reiz. Das Firmenschild hängt zur Hälfte in meterhohes Wasser getaucht. Jetzt gibt es keine Hoffnung mehr, auch nicht für die wertvollsten antiquarischen Folianten, die wir eilig nach ganz oben geschlichtet hatten. Die Kleinseitner Buchhandlung des Vitalis-Verlages, einst als Franz-Kafka-Buchhandlung gegründet und als Prager deutsche Buchhandlung bekannt, ist zur Wüstung geworden. Das Ausmaß der Zerstörung durch die schlammige Brühe wird erst später sichtbar werden, es scheint, als ob noch ein wenig Zeit bliebe, sich an den Untergang zu gewöhnen.

Aber das ist erst der Anfang, es soll noch schlimmer kommen. Wer den Wasserstand abschätzt, glaubt nicht mehr an ein Davonkommen. Auch das angrenzende Lager, eingerichtet in den vormaligen Verlagsräumen und bis zur Decke mit literarischer Feinkost gefüllt, wird zum Raub des Wassers. Wir ahnen, daß zehntausende Bücher in einer schlammigen, übelriechenden Brühe liegen, dahin ist die Aufbauarbeit eines Jahrzehnts. Später werden wir die Tür mit Brechstangen und Krampen aufbrechen und erst durch die Öffnung begreifen, daß nichts zu retten ist.  

Wieder Bangen und Hoffen: Steigt das Wasser weiter, wird es auch die Verlagsräume treffen, einige hundert Meter entfernt. Und schon geschieht, was niemand für möglich hielt: Das Wasser strömt über eine Wiese und ergießt sich auf die hier tiefer gelegene Straße U Železné lávky. An dieser Stelle hatte vor gut hundert Jahren ein eiserner Steg über die damals noch ungebändigte Moldau in die Altstadt hinübergeführt. Ein sicherer Steg über reißende Fluten, das schien eine gute Adresse für unseren Verlag zu sein. 

Die Trauerweiden am Klárov ragen aus dem schlammigen Teich, der sich hier gebildet hat. Enten und Schwäne tummeln sich geschäftig in den Baumkronen, genießen die Ausweitung ihres Lebenskreises. Drüben am Verlagsgebäude leuchtet ein Franz-Kafka-Plakat von der Eingangstür, das Wasser steht dem Schriftsteller bis zum Hals. Die Schwimmvögel scheinen von seinen melancholischen Augen angetan, immer wieder kreuzen sie die Gasse vor dem gleichmütigen Prager. 

Auch hier gibt es keine Schonung, das Wasser dringt in die tiefer liegenden Studioräumlichkeiten, steigt bis zur Decke und verwüstet alles – Möbel, Telefone, Elektronik, Rechner, Akten. Später werden zwei Arbeiter aus der Karpato-Ukraine beim Liquidieren helfen, angesichts der Zerstörung murmeln sie ergriffen: Strašné! Hlavně zdraví! Schrecklich! Hauptsache Gesundheit! Wir nicken, Trost aber ist uns das nicht. Den Verlust vor Augen, bilanzieren wir die tausenden Stunden der Plackerei, die Mühsal eines Jahrzehnts; unfaßbar, daß alles vergeblich war. 

Auf die Regenzeit folgten schwülheiße Spätsommertage. Die Hitze brütete über dem feuchtstickigen Lager mit den Tonnen an aufgequollenen, zur Gärung ansetzenden Büchern. Immer noch war der Strom im ganzen Viertel abgedreht, so war ans Ausräumen nicht zu denken. Die Zufahrt zum Katastrophensektor war unmöglich, das Betreten des Bezirks verboten – man fürchtete Plünderer. Jedes Überschreiten der Demarkationslinie war mit endlosem Palaver, mit Bitten und Betteln zu erkämpfen, meist blieben die Uniformierten stur. 

Wenn wir in den schwülen Nächten das Schlafzimmerfenster öffneten, strömte uns der widerwärtige Gestank des faulenden Papiers entgegen. Der ekelhafte Geruch haftete tagelang an unseren Fingern und ließ sich nicht abwaschen. Mehr noch als die stickige, von verrottender Pappe geschwängerte Luft bedrückte uns der Anblick der durchfeuchteten, schimmelnden und verklebten Literaturkadaver, die in schlammdurchsetzten Halden auf den Bagger und dann grotesk verdreht in Containern auf den Abtransport warteten. Wie schon so oft in diesen Tagen zeigten wir auf einen zerfetzten Rücken und einen zermalmten Band – da ging Leppins Roman seinen Gang in die Finsternis.



Endlich ist alles vorbei, erledigt, aus. Wir werden nicht mehr mit hohen Gummistiefeln über die Halden klettern, nicht mehr mit klobigen Äxten Türen aufbrechen oder Schubkarre um Schubkarre aus dem düsteren Gewölbe rollen. Ein tschechisches Ehepaar wirft noch einen Blick in den Container und flüstert bestürzt: Bože, to je škoda. Zu deutsch kann das heißen: Herrgott, so ein Schaden! Aber ihre Mienen verraten, was sie wirklich meinen: Mein Gott, ist das schade. Für diese beiden wollen wir nach Hause gehen, Kaffee aufsetzen und dann – von Neuem beginnen.

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